In letzter Stunde.

Novellette von Ralph von Rawitz
in: „Stralsundische Zeitung, Sonntagsbeilage” vom 19.10.1902
in: „Leipziger Tageblatt und Anzeiger” vom 04.10.1902


Stundenlang war er in dem engen Stübchen hin und her geschritten, vom Fenster zum Ofen, von dem Ofen zum Fenster. Kurz vor fünf hatte sein Batteriekamerad Höger an das Fenster geklopft und ihn ins Kasino zmn Essen mitnehmen wollen.

„Ich bedaure, ich kann heute nicht!”

„Sehen wir un» abends im Hirsch?”

„Vielleicht — ich weiß es noch nicht.”

„Adieu Astorp!” — „Adieu Höger!”

Nun trat der junge Offizier an den Schreibtisch, um noch einmal den Brief zu lesen, den die Nachmittagspost aus Berlin gebracht hatte.

„Mein lieber Herr von Astorp, meine Bemühungen sind leider ohne Erfolg geblieben. An Stiftsstellcn für Ihre Fräulein Schwestern ist nicht zu denken, da die Damen in zu jugendlichem Alter stehen. Auch eine feste Pension kann nicht ausgeworfen werden; im Kriegsministerium existieren keine Fonds für diese Zwecke. Es bleibt mithin nur der Weg des Immediatgesuches. Allein auch hier sind die Aussichten nicht zum besten, weil die Schatulle durch viele Patente in Anspruch genommen sein dürfte und ohnehin die Mittel nicht reichlich bemessen sind. Ich bedaure unendlich, Ihnen diesen Bescheid geben zu müssen, und bin mit vorzüglicher Achtung Ihr geneigter Seyfried, Regierungsrat.”

Astorp faltete das Schreiben und verschloß es in einem Fache des Schreibtisches. Dann rief er den Burschen: „Zimmermann!”

„Herr Leutnant?”

„Alten Paletot, Mütze, Säbel. Und um ½7 Uhr liegt der Ordonnanzanzug bereit: Hohe Stiefel, Feldbinde, Helm. Verstanden?”

„Zu Befehl, Herr Leutnant!”

„Zimmermann, Sie sollen jeden Befehl wiederholen, das ist Vorschrift. Warum?”

„Damit kein Irrtum entsteht, Herr Leutnant!”

„Richtig! Also?”

„Um 7 Uhr hohe Stiefel, Feldbinde, Helm!”

„Stimmt!” Der Offizier drückte die Mütze, die ihm der Bursche reichte, tief ins Gesicht und schritt hinaus, die kurze Straße entlang, die auf einen Feldweg mündete. Es hatte den ganzen Tag geregnet, nun brach ein Gruß der scheidenden Sonne durch das abziehende Gewölk und der Zenit leuchtete in reinem Blau. Zahllose kleine Wasserläufe rieselten über die primitive Straße und an jedem Grashalm hing ein blinkender Tropfen. Astorp atmete den frischen Erdgeruch tief ein und schritt rüstig eine Anhöhe empor, die eine Windmühle trug. Dort setzte er sich auf die steile Treppe und blickte weit hinaus ins Land. Zu seinen Füßen zog sich der Feldweg zurück zur Stadt, eine braune Schlange zwischen grünschimmernden Wiesen. Dahinter das alte liebe Nest mit seinem roten Backsteinkirchturm, dem spitzen Dachreiter des Rathauses, den verschnörkelten Giebeln am Markt; dann jenseits die Chaussee, die gerade und hellleuchtend mit ihren weißen Steinen hinaufzieht zum Forst; rechts führt ein Seitenweg hinter die Höhe weg. Da geht es nach dem Exerzierplatz; links der Fußweg zwischen Tannen und Fichten leitet zur Diepower Furt hinüber. — Tausend Gedanken durchziehen den Kopf des jungen Offiziers, der das alles noch einmal mustert, was ihm lieb und teuer war: „Dort drüben das graue Haus mit den grünen Läden, da hab' ich den Rock zum ersten Mal angehabt! Das war auch so ein Regentag, aber für mich doch genug Sonnenschein! Das Abitur hinter mir, da» Leben vor mir! Soldat, wie der selige Vater und Großvater! Ich sehe ihn deutlich vor mir, — es ist, als ob es gestern Vormittag war, — den dicken Vizewachtmeister, der mir brummend die dritte Garnitur heraussuchte. „Avantascheur, Sie ersaufen ja in den Hosen!” — Die lange weiße Linie — das sind die Ställe! Mit welchem Eifer habe ich da meine zwölf Striche 'runtergeputzt und meine „Thetis” gesattelt. — An der Stallecke stand der Posten, der zum ersten Mal vor mir präsentierte, als ich in Bandolier und Schärpe zur Meldung ging: „Durch Allerhöchste Kabinetsordre vom so und sovielten zum Sekondeleutnant befördert.” — Der wird auch zum letzten Mal vor mir präsentieren, wenn ich vom Abschiedsmahl komme! Und — nein — kein Abschiedsdiner! Wer kann das aushalten?! Die lieben alten Gesichter, jedes hinter seinem Glas, die Musik oben von der Galerie, die Reden und dann der schreckliche letzte Parademarsch! Dann treten sie alle an, die guten Kerls, und marschieren vorbei und ich — ich nehme die Parade ab, um nie wieder dabei zu sein — nie wieder —!”

Zwei Tränen wollten dem jungen Manne in die Augen emporsteigen, aber er stützte das Kinn auf den Säbelknauf, biß die Zähne zusammen und zwang die weichere Stimmung nieder.

„Es ist ja bitter, aber es geht doch nicht anders. Wenn die gute Mama noch ein Jahrzehnt gelebt hätte! Ja dann! Dann wäre ich Hauptmann gewesen und hätte Grete und Hede zu mir nehmen können; mit dem Kapitänsgehalt wäre es allenfalls gegangen. Aber jetzt — weiß Gott — es ist nicht zu machen. Und daß die beiden Mädels als Ladenmamsells ihr elendes Brot verdienen, ausgesetzt allen möglichen Fährlichkeiten der Großstadt — nein, das kann ich nicht zugeben. — Das zu verhüten, bin ich unserem Namen schuldig! — — Aber was werde ich nur dem Kommandeur sagen? Diese ganze Familien-Misère enthüllen? Nie und nimmer! Er ist zwar ein guter, wohlwollender Mensch, aber er ist reich — und darum! Er würde sich das gar nicht vorstellen können, baß man rein nichts besitzt, keinen gebogenen Groschen. — Und dann, wenn s i e das von ihrem Vater erführe! Wenn s i e gar annehmen könnte, ich hätte ibr vielleicht um der bekannten Taler willen den Hof gemacht! — — War sie mir eigentlich zugethan? Ich glaube nicht, und doch, wenn ich an den Juliabend denke, als wir unser Sommerfest feierten, und als wir beide unten im Garten am Fluß promenierten — vielleicht bin ich da zu kühl gewesen, zu ablehnend gegen die gefeierte, vielumschwärmre Schönheit. — Aber es ist besser so — und wenn ich erst sechs oder acht Wochen fort bin, dann werde ich auch das verwinden.”

Ein Trompetensignal klang hell von dem Städtchen herauf. „Futtern!” „Wahrhaftig, schon sechs Uhr — muß machen, daß ich wieder hinunterkomme. Altes, liebes Signal! Wenn dich der unmusikalischste unserer Blechpuster bläst, du klingst mir süßer als eine Opernweise von Rossini!”

*           *           *

Eine halbe Stunde später schritt Leutnant von Astorp durch die stillen Straßen der Kleinstadt zur Wohnung seines Kommandeurs; er hatte den Mantel über dem Ordonnanzanzug angelegt, um unliebsamen Fragen etwa begegnender Kameraden zu entgehen. Sein Weg führte ihn am Kasino vorbei; die Fenster waren hell erleuchtet, lachende Stimmen und die lustigen Weisen eines Marsches, den ein Offizier auf dem Piano trommelte, klangen über den Vorgarten weg bis zur Straße. Er blieb am Gittertore stehen: Wie gern wäre er jetzt da drinnen gewesen, wie gern hätte er mit den anderen an das Glas geklingt, wenn der Refrain wiederkehrte:

„Denn die Artillerie — die Artillerie —
Ist aller Waffen Krone!” —

Astorp riß sich los und schritt weiter: „Tempi passati”. Vor der Haustbür des Kommandeurs traf er den Burschen, den er hinaufschickte, um ihn anzumelden. Gleich darauf standen sich Astorp und Oberst Freiherr von Markenstein gegenüber.

„Guten Abend, mein lieber Astorp! Was bringen Sie mir?”

„Herr Oberst, ich komme, um — — meinen Abschied zu erbitten!”

Der Vorgesetzte trat einen Schritt zurück.

„Wie? Ich habe wohl nicht recht gehört? Sie, Sie wollten — — ”

„Meinen Abschied erbitten und die Befürwortung an Allerhöchster Stelle nachsuchen!”

„Ja aber, Herr — sind Sie des Teufels? Ein Offizier von Ihren Fähigkeiten; — na, nehmen Sie sich 'mal zuerst hier den Stuhl, dann wollen wir die Sache in Ruhe besprechen. — Sie haben sich übereilt, ich weiß dienstlich noch von nichts! — Die Sache muß zuerst mal privatim besehen werden. — — Hm! — — Hm! — Sie wollen also weg?!” —

„Jawohl, Herr Oberst!”

„Na, und weshalb?”

„Aus familiären Gründen!”

„Ist es indiskret, wenn ich um näheres Detail bitte?”

„Herr Oberst wissen, ich habe kürzlich meine Mutter verloren. Meine zwei Schwestern — siebzehn und sechzehn Jahre alt, stehen allein; sie bedürfen des Beschützers.”

„Haben Sie denn keine Verwandte, bei denen die jungen Damen wohnen könnten?”

„Nein, Herr Oberst, wir drei stehen ganz allein!”

„Nun, dann nehmen Sie doch eine Repräsentationsdame ins Haus — weiß wohl, es ist schmerzlich, eine Fremde da walten zu sehen, wo die Mutter — und ist auch nie zu ersetzen — aber immerhin ein modus vivendi. Und Sie, Astorp, könnten ja jeden Sonntag 'rüberfahren, nach dem Rechten sehen.”

„Das ist leider auch nicht möglich!”

„Na, und wieso nicht?”

„Wir sind — wir sind nicht — nicht wohlhabend genug dazu!”

„Hm! Sie hatten ja sechzig Mark Zulage, nichtwahr?”

„Zu Befehl — nun aber auch nicht mehr.”

„Ihre Frau Mutter hatte kein Vermögen?”

„Wir lebten von Mamas Pension!”

„Ihr Herr Papa war auch Offizier — ich weiß. Wo stand er eigentlich?”

„Er hatte das 190. Regiment in Stettin! Starb am Schlag vor der Front!”

„Und Ihre Frau Mutter hat das nicht verwunden? Wie lange hat sie ihn überlebt?”

„Fünf Jahre!”

„Und wie lange sind Sic Offizier?”

„Auch fünf Jahre. Wenige Wochen nach Papas Hinscheiden erhielt ich die Epauletten!”

„Und — gesetzt den Fall, Sie scheiden aus der Armee aus — was denken Sie dann anznfangen? Nein, lieber Astorp, es ist heute nicht so leicht, in einem wildfremden Beruf Fuß zu fassen. — Verstehe ich Sie recht, so wollen Sie Ihre Schwestern ernähren — das ehrt Sie — ist aber kein Kinderspiel. Haben Sie denn etwas in Aussicht?”

„Nichts Bestimmtes, halbe Zusagen ”

„Das ist also gar nichts!”

Herr v. Markenstein stand auf und ging fünf Minuten auf und ab. Endlich blieb er vor dem jungen Offizier wieder stehen.

„Nun, und wenn Sie Königs-Zulage erhielten — wollte mich warm dafür verwenden?!”

„Für mich ginge es wohl, Herr Oberst, aber die Kinder — —”

„Ja, verstehe! Und — und, nehmen Sie's mir nicht übel, Herr von Astorp, ganz unter uns Offizieren — ich persönlich bin sehr gern bereit, in jeder Weise — verstehen Sie mich nicht falsch — durchaus keine Wohltätigkeit — nur aus Egoismus, um dem Regiment einen tüchtigen Offizier zu erhalten!”

„Herr Oberst!”

„Sehen Sie, Astorp. das wäre mir wirklich ein großes Vergnügen, und verpflichtet Sie zu nichts, mich auch nicht — nur Geschäftssache; und wenn Sie Hauptmann erster Klasse sind, zahlen Sie die Geschichte zurück. Gott, wie kurz ist das — in vier Jahren sind Sie Oberleutnant, in acht Jahren Kompagniechef — also praeter propter, zehn Jahr! Und ich merke es wahrhaftig nicht.”

„Gehorsamsten Dank, Herr Oberst! Und ich darf wohl mehr sagen, als diesen kühlen, dienstlichen Dank. Aufrichtigen und wärmsten Dank für dieses Zeichen Ihres Wohlwollens — allein es ist unmöglich. Aus tausend Gründen unmöglich! Ich kann sterben, kann Malheur haben nnd Invalide werden!”

„Aber, Mann, seien Sie doch gescheit. Sterben können Sie auch als Civilist, Invalide werden auch im schwarzen Kittel. Dann sitzen Sie auch da!”

„Ja — aber — —”

„Aber, Sie wollen mir nichts schulden! Torheit! Schulden mir gar nischt! Einfach Vorschuß! Meinetwegen sogar mit Zinsen, wenn Sie das beruhigt — und — na — wissen Sie, vielleicht auch mit Gegenleistung; Bergmann,mein Adjutant, geht jetzt auf Kriegsakademie — habe an Sie als Nachfolger gedacht. Könnten mir da große Dienste leisten, für mich ebenso viel thun, wie ich für Sic.”

Astorp bedeckte einen Augenblick mit der Hand die Augen: Rcgimentsadjutant werden, sorgenfrei sein — es waren herrliche Zukunftsbilder. Aber dann wieder: Nein! Sollte er die großmütige Gesinnung einer flüchtigen Stunde auf lange Zeit hinaus ausnutzen? Konnte es den Kommandeur nicht bald, bei der ersten Differenz gereuen, dauernde Hilfe versprochen zn haben? Würde sein eigener Charaktcr unter diesem fortwährenden Drucke nicht leiden müssen? Und endlich — als Adjutant i h r e s Vaters fast täglich mit i h r in Berührung kommen und niemals sagen dürfen, daß sie — nur sie — —!

„Nein, Herr Oberst” — mit tonloser Stimme sprach Astorp — „es geht nicht. Und ich bitte, genehmigen Sie mein Gesuch: Noch einmal also und das dienstlich. Ich bitte gehorsamst nm die Befürwortung meines Abschieds aus Familiengründen an Allerhöchster Stelle.”

Herr von Markenstein war sehr ernst geworden. Er reichte dem jungen, bleichen Offizier die Hand:

„Gehen Sie mit Gott, Herr von Astorp.” —

Der Leutnant klappte die Sporen zusammen und verließ das Zimmer; aber er kam nicht weit, denn im Vorgemach trat ihm eine schlanke Mädchengestalt rasch entgegen.

„Ich habe alles gehört — Herr von Astorp! Sie wollen fort!”

Der Offizier verneigte sich wortlos.

„Müssen Sie wirklich fort — m ü s s e n Sie?”

„Ich muß, gnädiges Fräulein!”

„Ihre Schwestern — ich weiß! Warum haben Sie sie nicht zu uns gebracht? Warum nicht zu mir? Ich hätte so gern Geschwister!”

„Gnädiges Fräulein — Sie sind so gut, so gut wie der Herr Oberst —”

„Wird es Ihnen denn so leicht, uns zu verlassen? Bleibt hier niemand zurück, der Ihnen lieb war?”

„Gnädiges Fräulein, Sie machen mir den Abschied so schwer — ja, das liebe Regiment, die Kameraden, die alte Stadt, — —”

„Und sonst niemand? Niemand, Joachim?!”

„Charlotte!” — —

„Na, jetzt habe ich auch ein Wörtchen als pater familias mitzurcden,” sagte der Oberst, als er einige Minuten später die Hände der beiden jungen Leute ineinander gelegt hatte, „ich verbiete Ihnen ganz einfach, mein lieber Sohn, den Abschied zu nehmen. Überdies sind Sie mir Ersatz schuldig: da Lotte uns von Ihnen entführt wird, so ist es recht und billig, daß Sie uns Ihre Schwestern abtreten. So gewinne ich zwei Töchter und auch der Dienst, an den wir als gute Militärs doch immer denken müssen, soll dabei nicht zu kurz kommen. Das Feldartillerie-Regiment hat sich einen tüchtigen Regimentsadjutanten gesichert, und zwar kurz bevor er den Waffenrock und Säbel mit Smoking und Regenschirm vertauschte. Na, Kinder! So lange habt ihr euch beide also schon angcschwärmt und doch einander nichts merken lassen?! Nun war es aber hohe Zeit, ihr habt euch wirklich gefunden

In letzter Stunde”!

— — —